... „Ach du grüne Neune!", mischte sich Carl ein. „Bis jetzt hattest du keinen schlechten Eindruck auf mich gemacht. - Ein Pfarrer!"
„Was findest du daran so komisch? Hast du mit der Kirche nichts am Hut?"
„Nein, weder am Hut, noch an sonst was! Ich glaube nicht an diesen Zauber. Ich bin Atheist", erklärte Carl dem staunenden Michael.
„Wieso läufst du dann den Jakobsweg?"
„Weil sich zufällig der Jakobsweg mit dem Rotweinweg in Europa deckt! Ich laufe alle Wege dieser Welt, nur keine Durststrecke." Michael schaute Carl verwundert an. „Ich genieße im Augenblick zusammen mit zwei netten Pilgerinnen und einem hoffentlich netten Pilger - auch wenn er Pfarrer werden will - den Rotweinweg, der in der Pfalz begonnen hatte und in Santiago enden wird", sagte Carl. Michael war verblüfft. Aber Carl erläuterte dem seiner Meinung nach begriffsstutzigen Pfarrer-Anwärter seine Sicht der Dinge: „Also, pass mal auf: Zuerst habe ich in der Pfalz den Spätburgunder genossen, wenn ich nicht gerade ein Pfungstädter Bier getrunken habe, dann den Pinot Noir im Elsass, den Baco Noir in Le Puy. Ich freue mich schon auf einen roten Cahors, auf einen roten Tannat im Béarn, auf einen Navarra-Wein, einen herrlichen Rioja. Und schließlich auf den Vino tinto del Bierzo.
'Geh alle Wege dieser Welt
bis an mein selig Ende.
'Brauch Brot und Wein, ein wenig Geld
und wandle in der Fremde."
„Ich glaube, ich spinne. Deine Pilgerstationen sind also Europas Wein-Anbaugebiete?", fragte Michael belustigt.
„Oui, monsieur. - Guck nicht so komisch! Du musst die schönen Seiten des Lebens genießen. Ich will Menschen, Länder und fremde Kulturen kennenlernen. Das erweitert den Horizont. Das Leben ist kurz."
„Und du hast auf dem Weg noch keine Erleuchtung gewonnen, dass es einen Gott geben könnte?", fragte Michael spitzbübig.
„Ich laufe hier nicht herum, um auf Erleuchtung zu warten. Erleuchtungen kommen von ganz alleine: Zum Beispiel die beiden hübschen Pilgerinnen hier, der Wein, das herrliche Wetter und das Pilgermenü heute Abend in Les Estrets. Und wieso läufst du?"
„Ich bin mir nur zu neunzig Prozent sicher, dass ich Priester werden will", antwortete Michael. „Über die restlichen zehn Prozent will ich hier auf dem Weg noch nachdenken." Michael lachte.
„Ich wäre mir an deiner Stelle auch nicht sicher. Denn wenn du fragst: Den da oben gibt es nicht. Du läufst einem Phantom nach. Mach lieber was Vernünftiges in deinem Leben", entgegnete Carl recht trocken. Michael stockte und wusste im Augenblick nicht, was er sagen sollte. Mit so einem Kameraden hatte er nicht gerechnet. Hinter Le Puy hatte er viele Pilger auf dem Weg getroffen, alles verschiedene Menschen, auch schrullige Typen, aber so einem war er noch nicht begegnet.
„Das hier ist ein Pilgerweg, der Jakobsweg! Du musst damit rechnen, dass du viele Leute, so wie ich einer bin, triffst. Und wenn dich das stört, dann kannst du ja auch woanders laufen!" Michael schlug einen anderen Ton an.
„Nun hör mal gut zu, Hochwürden", sagte Carl, indem er sich, auf seine Teleskopstöcke stützend, vor Michael aufbaute. „Dieser Weg, der sich Jakobsweg nennt, ist ein hochwertiges und gut vermarktetes Dienstleistungsangebot, das von kulturinteressierten Menschen aus der ganzen Welt angenommen wird. 1987 erklärte der Europarat den Weg zum ersten europäischen Kulturweg. Hörst du: Kul-tur-weg! Und die Muschel ist ein gelungenes Markenzeichen, das mir signalisiert, dass die Organisatoren etwas von Marketing verstehen. Und dass euer Jakobus in Santiago de Compostela begraben liegt, glaubst du doch selbst nicht - jedenfalls glaubt das kein vernünftig denkender Mensch - aber es zu verkünden war eine geniale Marketingidee der spanischen Kirche des 9. Jahrhunderts, um Bewegung in die Kirche und Geld in die Kassen zu bekommen. Das hier ist nichts anderes als ein perfektes Marketingkonzept. Entendido?" Als Michael nicht reagierte, stieß Carl ihn in die Seite und wiederholte auf Deutsch: „Verstanden?" Aber Michael wusste im Augenblick nicht, was er sagen sollte, so dass sie eine Zeit lang mehr oder weniger schweigend weiterliefen. Unterhaltungen wechselten sich mit Phasen des Schweigens ab. Dies schien ein Gesetz des Weges zu sein ...


... Auf etwa halbem Weg kam ihnen eine ältere Frau entgegen, die auf Carl zuging, ihm einen Zettel in die Hand drückte und ihn dann fast flehentlich bat: „Priez pour nous à Compostelle". Dann ging sie, einen ‚bon chemin' wünschend, ihren Weg weiter.
„Beten Sie für uns in Compostela, das ist was für dich", wandte sich Carl an Michael. „Beten ist doch dein Beruf", fügte er noch hinzu und gab ihm den Zettel. Michael faltete den Zettel auf und las: ‚Priez pour nous à Compostelle. Jeanne y Paul Leroux, Nasbinals'.
„Und was machst du damit?", fragte Carl mit neugierigem Blick und spöttischem Grinsen.
„Ich hebe ihn auf und in Santiago werde ich wie gewünscht für beide beten", antwortete Michael.
„Und was betest du dann?", hakte Carl nach.
„Gebet ist die Hinwendung des Menschen zu Gott. Wer an Gott glaubt, betet auch, sonst würde er ihn ja missachten. Im Gebet versucht man eine Verbindung mit Gott herzustellen. Vielleicht kennst du die Geschichte von der Himmelsleiter. Jakob, der Sohn Isaaks, schläft mit dem Kopf auf einem Stein und träumt von einer Leiter oder Treppe zwischen ihm und dem Himmel, auf der die Engel hinauf- und hinuntersteigen. Und ganz oben ist Gott, der zu ihm spricht. Nachzulesen im Alten Testament, Genesis 28,10f. Die Himmelsleiter ist ein schönes Bild von dem Wunsch der Menschen, mit Gott zu kommunizieren", dozierte Michael.
„Wenn ich auf einem Stein schlafen müsste, würde ich auch so einen Scheiß zusammenträumen. Statt meine Frage zu beantworten, hast du mir einen Vortrag aus deinem Theologiestudium gehalten. Ich wollte wissen, was du in Santiago betest!" Carl war heute ziemlich grantig, der Wein vom Abend zuvor wirkte immer noch nach, die Kopfschmerztablette dagegen noch nicht. Bei Michael hatte der frische Wind auch noch kein Stimmungshoch erzeugt, er bemühte sich aber trotzdem, sich der ‚kollektiven Vernunft' der Pilgergruppe beugend, in Carl einen netten Kumpel zu sehen. Diese Erkenntnis hatte er vom Vorabend noch schwach in Erinnerung.
„Ich werde in Santiago - irgendwann, wenn es soweit ist - Gott für diesen Weg danken und ihn bitten, dass mein weiterer Weg ein rechter sein möge und dabei Jeanne und Paul und andere mit einbeziehen. Was ich bete, weiß ich noch nicht, das werden Ort und Zeit mir schon noch sagen, aber ich werde auf jeden Fall um Vergebung unserer Sünden bitten", klärte Michael auf.
„Du hättest von der Frau Geld verlangen müssen. So war das doch im Mittelalter mit dem Ablasshandel. Vergebung der Sünden gegen Geld."
„Wir leben nicht mehr im Mittelalter." Carl stellte seinen Rucksack ab und setzte sich an einem sonnigen Fleckchen auf den Boden. Sein Brummschädel hatte ihn wohl in der Herberge seine Schuhe schlampig binden lassen und nun saßen sie viel zu locker am Fuß. Er wusste von seinen Odenwald-Wanderungen, dass zu fest gebundene Schuhe wegen der Druckstellen, aber auch zu locker gebundene wegen reibender Falten an den Socken zu Blasen führen. Carl fielen Hannas Blasen ein, während er begann, seinen linken Schuh neu zu binden und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich - entgegen seiner gestrigen Ankündigung - nicht um ihre Füße gekümmert hatte.
„Aber die Verkettung von Sündenvergebung und Unterwerfung ist geblieben!"
„Wieso Unterwerfung?"
„Du sagtest doch, dass du in Santiago um Gnade bitten wirst. Da werden sich deine Chefs freuen, wenn sie den gehorsamen, untertänigen Michael sehen, der beteuert, dass er ein schlechter Mensch sei und um Vergebung bittet. Von solchen Leuten hat die Kirche seit Jahrhunderten gelebt. Von nackter Unterdrückung."
„Ich fühle mich nicht unterdrückt!" Der linke Schuh war fertig. Carl löste die Schnürsenkel des rechten Schuhs und band auch diesen neu.
„Deine Kirche hat einen Katechismus geschrieben und den Leuten eingeredet, dass sie schon mit der Erbsünde auf die Welt kommen und im Leben dauernd sündigen und dafür Buße ablegen müssen. Und zur Abschreckung, damit auch keiner auf andere Ideen kommt, hatte man die Inquisition eingeführt und jeden gequält, ja sogar ermordet, der nicht so wollte wie die offizielle Kirche."
„Dir fällt wie gestern nur dein Geschichtsunterricht ein. Wenn du aber in der Schule richtig aufgepasst hättest, wüsstest du, dass die gesamte Menschheit damals so war, wie du die Kirche schilderst. Das war eher ein soziologisches Problem als ein kirchliches. Bleibe in der Gegenwart, Carl, das ist zielführender." Carl stand auf, stellte zufrieden fest, dass sein Schuhwerk korrekt saß, schulterte seinen Rucksack, nahm seine Stöcke und lief weiter.
„Heute mordet ihr zwar nicht mehr, aber ihr verurteilt immer noch. Die Leute winseln auch heute noch um Gnade. So wie du es in Santiago tun wirst. Ich dagegen will keine Gnade, sondern Gerechtigkeit! Ich will nicht von Gnade leben, sondern von meiner Hände Arbeit. Wir haben nur deshalb keine Gerechtigkeit, weil wir zu viel Erbarmen, Gnade und Großmut haben. - ‚Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleiden: zu sehr gebricht es ihnen an Scham ... Schaffen, das ist die große Erlösung vom Leiden ... Also sprach Zarathustra'", ereiferte sich Carl und betrachtete Michael mit einem durchbohrenden Blick ...
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